Kultusminister Spaenle diskutiert mit Historikern über Zäsuren und Brüche in der Zeitgeschichte – 1917 und 1989 als tiefe Einschnitte – 2017 neue Zäsur?
MÜNCHEN. Brüche und Zäsuren der Geschichte der jüngsten 100 Jahre diskutierte Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig Spaenle, selbst Historiker, gestern Abend mit den Hochschullehrern Prof. Dr. Manfred Görtemaker (Potsdam), Prof. Dr. Elke Seefried (München), Prof. Dr. Ferdinand Kramer (München) sowie Dr. Gundula Bavendamm, der Leiterin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Berlin). Er hatte zu einem zeitgeschichtlichen Forum nach München eingeladen.
Zwei massive Einschnitte in den vergangenen 100 Jahren waren von den Historikern rasch ausgemacht: 1917/18 als Beginn eines „Zeitalters der Ideologien und der Massenbewegungen“ sowie 1989/1990 als Ende des Kalten Krieges, des Zerfalls der Sowjetunion, als Beginn einer Phase der Globalisierung und neuer Unsicherheiten, einer „Phase einer neuen Offenheit“, aber zugleich der „Phase einer neuen Beliebigkeit“. So brachte es der Potsdamer Historiker Görtemaker auf den Punkt. Und diese neue Phase beschere mit vielfältigen neuen Unsicherheiten auch das „Risiko des Scheiterns des Europäischen Projekts“.
Mit Blick auf die beiden Zäsuren 1917/1918 sowie 1989/1990 hätten der Faschismus und besonders das nationalsozialistische Deutschland mit seinen massiven Zivilisationsbrüchen – in der Schlussfolgerung – befristet den Gegensatz von Demokratien und kommunistischen Regimen unterbrochen.
Die „Europäische Integration“, also das Aufeinander-Zugehen der Staaten in Europa, skizzierte der Historiker Görtemaker bewusst zuspitzend als „Produkt amerikanischer Erpressung Deutschlands und Europas“ im Umfeld des Hilfsangebots der Vereinigten Staaten an europäische Staaten nach 1945, damit diese ihre nationalen Egoismen überwänden. Dieser These widersprach der bayerische Landeshistoriker Kramer, konstatierte „einen starken Impetus aus Bayern zugunsten Europas auch gegen einen aufgeblasenen Nationalstaat“ und stellte ihn in den Kontext vergleichbarer regionaler Strömungen in Ländern wie Spanien, Großbritannien und dem ehemaligen Jugoslawien gegen Staatsmodelle, die den Gedanken einer abgeschlossenen nationalen Identität besonders verbunden sind. Bezüglich der Feststellung Ludwig Spaenles, „der Nationalstaat muss sich in dem europäischen Haus und in der Globalisierung neuen Herausforderungen stellen, herrschte Einigkeit. Allerdings sei Europa, wie es Görtemaker ausdrückte, anno 2017 selbst in eine „Schieflage“ geraten.
In der Historiographie notierte Elke Seefried vom Institut für Zeitgeschichte parallel zu Strömungen des politischen und gesellschaftlichen Handelns u. a. eine Phase der Zuwendung zur Demokratisierung und zum kulturellen Wandel, eine der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und eine Interpretation der jüngsten Jahrzehnte als eine Geschichte der Strukturbrüche in einem neoliberal geprägten Europa. Ferdinand Kramer zeichnete Abgrenzungen, aber auch Vernetzungen zwischen zeitgeschichtlicher und landesgeschichtlicher Forschungsarbeiten auf, machte dabei deutlich, dass regionale Entwicklungen als enorm aussagekräftig für die Abbildung der zeitgeschichtlichen Entwicklungen eingestuft werden müssen. Mit Blick auf Deutschlands Handeln in Afghanistan, Mali und in anderen Staaten sprach Kramer von „einer militärischen Außenpolitik“ Deutschlands, die mit dem Begriff „Verantwortung“ verniedlicht werde.
Im Raum stand bei der Veranstaltung, die in eine Diskussion über „Erfahrungen und Maßstäbe im Blick auf das zurückliegende Jahrhundert“ mit Elke Seefried, Manfred Görtemaker, Ferdinand Kramer sowie Gundula Bavendamm mündete, die Frage: Wird das Jahr 2017 von künftigen Historikern als ein Schicksalsjahr eingestuft werden? Mit Blick auf ihre Arbeitsschwerpunkte machte Gundula Bavendamm bewusst, dass nicht nur Diktaturen Flucht und Migration lostreten können. Auch die Politik von Demokratien könne Flucht, Vertreibung und Migration ermöglichen, im Einzelfall sogar initiieren.
Die Veranstaltung stand ganz im Geschichtsverständnis von Kultusminister Ludwig Spaenle, der Gelegenheiten schaffen will, „dass Menschen über ihr Dasein nachdenken, ihre Identität suchen und ein Stück weit finden“. Dazu muss man historische Forschung möglich machen, Ergebnisse historischer Forschung in Schulen, Hochschulen, aber auch Kultureinrichtungen im weitesten Sinne bekannt machen und diskutieren – als Orientierung für das eigene Leben und das gesellschaftliche Handeln.
Dr. Ludwig Unger, Tel. 089-21862105
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